Als Flow bezeichnen die Forscher diesen scheinbar magischen Zustand, wenn der Mensch voll in seiner Tätigkeit versinkt. Man ist sozusagen «eins» mit dem Surfbrett, mit dem Musikinstrument, überhaupt mit dem Moment. Neurologisch gesehen ist dabei die Selbstreflexion weniger aktiv, d.h. man hinterfragt die eigene Aktivität nicht, sondern führt einfach aus.
Produktivitäts-Junkies versuchen alles, um möglichst viel und möglichst lang im Flow-Zustand zu verweilen. Die Medizin entdeckt langsam die positiven Wirkungen des Flows auf unsere physische und psychische Gesundheit. Und wir Musiker und Musikpädagogen fragen uns natürlich: Wie ist es mit dem Flow beim Spielen und beim Üben?
Die goldene Mitte – da ist der Flow
Es gibt viele Faktoren, die den Flow-Zustand begünstigen. Der wohl wichtigste ist die Gratwanderung zwischen Unter- und Überforderung. Wenn dich deine Tätigkeit langweilt, fängst du an, an andere Dinge zu denken, das Dranbleiben fühlt sich ärgerlich an, die innere «Befragung» läuft an und der Flow-Zustand ist Vergangenheit. Auf der anderen Seite: Wenn die Tätigkeit zu schwierig ist, fangen die Selbstschutz-Mechanismen an, den Moment abzuwehren. Stress macht sich breit und der Flow scheint unerreichbar.
Irgendwo dazwischen liegt die goldene Mitte: Wenn dich die Aktivität leicht fordert, ohne dein Gehirn übermässig zu beanspruchen, dann surfst du die Flow-Welle. Du vergisst die Zeit und du kommst richtig gut voran.
Aufs Klavier-Spielen angewendet: Die Wahl der Stücke und der Übungen ist der Schlüssel. Wähle Material, das zu deinem Niveau passt. Sei ehrlich zu dir selbst und überfordere dich nicht. Weitere Faktoren sind hier auch die Übe-Frequenz und -Dauer. Damit kannst du bei schwierigeren Stücken die Überforderung regulieren.
Kinder machen das in der Regel automatisch. Wenn ihnen langweilig ist, suchen sie sich was neues. Wenn es zu schwierig ist, suchen sie sich was neues. Wenn es genau passt, können sie für längere Zeit darin versinken. Wir Erwachsene sind da oft etwas «kompliziert». Wir zwingen uns, an zu schwierigen Dingen dran zu bleiben, weil es «Sinn macht» – anstatt die Wellen des Flows zu surfen.
Überforderung vermeiden, Frustration erlauben
Ein zweiter Lernpunkt aus der Flow-Forschung ist: konstanter Flow ist unmöglich. Der angestrebte Zustand kommt und geht in Wellen, oder besser gesagt in Phasen, ähnlich wie die Jahreszeiten.
Da der Flow nie in der Komfort-Zone stattfindet (das wäre langweilig), erfordert er ein stetiges Lernen. Wir müssen unser Gehirn immer wieder «überladen», um die Wellen surfen zu können. Wenn der bekannte, erstrebenswerte Flow-Zustand der «Herbst» der Flow-Phasen ist, dann ist Frust so etwas wie der «Frühling».
Hier die vier Phasen des Flows:
- Herbst: Während des Flows sammelst du Motivation, es tut gut.
- Irgendwann ist die Flow-Welle vorbei und es kommt der Winter – du erholst dich und dein Unterbewusstsein integriert. Meditation, Spaziergänge, Schlaf und andere wenig anspruchsvolle Tätigkeiten sind angesagt.
- Frühling: Nach der Erholung hast du genug Energie, um deine Grenzen wieder ins Unbekannte zu pushen. Du fängst was Neues an und es ist anfangs schwierig. Frust ist oft mit dabei, aber das macht nichts.
- Irgendwann sagt dein Hirn «Stop» und du lässt los. Der Sommer ist die Phase des Loslassens. All die neu angelernten Dinge müssen noch nicht voll perfektioniert sein. Das Unterbewusstsein übernimmt hier wieder das Steuer. Und dann kann der Flow wieder kommen und der Kreis schliesst sich.
Am Klavier geht es also auch darum, dosiert(!) immer wieder neues Material anzufassen. Sich immer wieder heraus zu fordern. Und dann auch wieder loszulassen und zu vertrauen, dass dein Gehirn die Lektionen mit der Zeit selbst verinnerlicht.
Wenn dich das Thema Flow interessiert kann ich dir zwei Quellen empfehlen. Einerseits gibt es das Buch «Art of Impossible» von Steven Kotler. Soviel ich weiss gibt es das Buch nur auf Englisch, es ist aber das Aktuellste, was es momentan gibt und es lohnt sich. Die zweite Goldmine ist die Forschungsarbeit von Manuela Marin, die den Flow-Zustand auch spezifisch in der Musik untersucht hat.
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Ich hab 2010 mal in Berlin an einem Seminar für Musiker zum Thema "Üben im Flow" teilgenommen. Ich war eine der wenigen nicht-studierten Musiker dort. (gleichzeitig wurde mir bei jenem Seminar auch klar, dass der Leistungsdruck im Musikstudium den anderen die Freude am Üben größtenteils grundlegend versaut hatte)
Was mir von damals noch in Erinnerung ist: wir haben zuerst den Fokus darauf gelegt, aus unserem Instrument möglichst wohlklingende Töne, bzgl Tonqualität, herauszukitzeln. Und in jener dann das Stück, das wir uns erarbeiten wollen, nur die Tonfolgen, erstmal komplett unbeachtet vom Rhythmus, aber stets dem Anspruch möglichst guter Tonqualität, in beliebigem Tempo zu spielen. Wenn dann die Bewegungsabläufe an sich auf diese Weise flüssig geworden sind, erst dann versucht man das Stück mit dem notierten Rhythmus zu spielen. Anfangs langsam, später schneller, im anvisierten Ziel-Tempo.
Dies alles dient eben dazu, auch schwierige Stücke so zu üben, dass man sich dabei stets nur an der Grenze der Komfortzone entlanghangelt statt in die Unter- oder Überforderung zu gehen.
Wenn ich mich in letzter Zeit ans Klavier setz, dann erlaub ich mir mittlerweile immer öfter, zuerst die linke Hand planlos irgendwelche Tastenkombinationen anzuschlagen (ohne benennen zu können welche Akkorde das sind, meist spiel ich dabei mit geschlossenen Augen) und dann total spontan mit der rechten was passendes melodischeres dazuzuklimpern. Dabei darfs zwischendurch auch mal jazzig und schief klingen, ich bin dann sozusagen erwartungs- und wertungsfrei (!) im Experimentier-Modus und versuche zu ergründen, was an Musik aus diesem Instrument noch so alles herauszukitzeln geht. Dabei gerate ich als sehr sehr leicht in den Flowmodus und vergesse total alles um mich herum und die Zeit sowieso…
Dies beides vielleicht noch kurz zur Ergänzung.
Sehr schön, danke Sarah für diesen Einblick! Erinnert mich auch an Jacob Collier, der in einer seiner Masterclass-Schulungen erzählt wie er einen neuen Groove lernt: als erstes einfach nur das Gefühl am Instrument reproduzieren und die Körperbewegung, ohne überhaupt daran zu denken, dass man die richtigen Töne trifft. Das klingt zwar falsch, aber man kommt ins Gefühl rein. Und dann baut man darauf, auf dieses Gerüst, die Musik mit den richtigen Tönen. Das kann in vielen Fällen wirklich eine Abkürzung sein.
Lieber Artemi,
Du bringst es super auf den Punkt. Danke für die simplen doch potenten Botschaften!
Mathias
Ein richtig guter Artikel, lohnt sich zu lesen.
danke