Wenn du Melodien improvisierst, ob auf dem Klavier oder welchem Instrument auch immer, gibt es zwei Dinge zu beachten: die Waagrechte und die Senkrechte. Mit der Waagrechten meine ich die horizontale Achse, die Zeit. Da entsteht dein melodischer Bogen, die «Phrase». Die vertikale Achse ist aber genauso wichtig – sie sorgt für einen funktionalen Zusammenhang mit deiner Begleitung.
Der grosse Mythos
Als ich mit dem Klavierspiel angefangen hatte, dachte ich das, was alle denken: Improvisieren ist ein Talent. Es ist eine Gabe, die ein paar wenige Leute haben. Und das Kriterium für diese Gabe ist ein «gutes Gehör». Das haben mir meine Eltern damals auch gesagt: «Du hast kein gutes Musikgehör». Die gute Nachricht ist: das ist alles Unsinn.
Du brauchst kein «Gehör», um Improvisation zu lernen. Was du brauchst ist Übung. Und zwar Übung in den richtigen Bereichen. Was das für Bereiche sind, schauen wir uns gleich an.
Melodien improvisieren leicht gemacht
Schritt 1: Vorbereitung
Obwohl Improvisation letztendlich frei aus dem Bauch heraus entsteht, ist der Verstand trotzdem an vorderster Front dabei. Die Auswahl der Töne geschieht «live», während du spielst und jede Entscheidung, die du triffst ist eine Art «Educated Guess» – zu Deutsch «gebildetes Vermuten». Im Moment der Entscheidung spielt also nicht nur dein Gefühl eine Rolle, sondern auch alles Wissen, das dir in diesem Zeitpunkt zur Verfügung steht.
Das heisst natürlich nicht, dass du während dem Improvisieren Zeit hast, dir jeden nächsten Ton auszudenken. Deswegen ist es entscheidend, dass das notwendige Wissen «verkörpert» ist. Es muss in deinem Unterbewusstsein angekommen sein, sodass du z.B. die jeweiligen Akkordtöne im Schlaf abrufen kannst.
Soll ich jetzt Harmonielehre studieren? Nein. Naja, vielleicht ein bisschen. Was ich studieren würde, sind Akkorde: Tonarten und ihre jeweiligen Stufenakkorde, in allen Umkehrungen. Das bringt dich weiter. Denn deine Improvisation klingt nur so gut, wie sie zur Begleitung passt. Somit musst du deine Begleitung in- und auswendig kennen.
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Schritt 2: Horizontal improvisieren
Schau dir den Refrain von «Whiskey in the Jar» an und du erkennst schnell «Phrasen». Melodien sind wie Sätze in der Sprache – sie haben einen Anfang und ein Ende. Es gibt grössere Bögen und kleinere Bögen. Wiederholungen sind besonders wichtig, weil sie dem Zuhörer das Gefühl geben, er höre etwas bekanntes.
Hier hat die Phrase im ersten Takt den exakt gleichen Rhythmus, wie die Phrase im zweiten Takt:
Auch die süsse kleine Leiter im letzten Takt hat Mikro-Wiederholungen drin: Zwei achteln auf demselben Ton, dann nochmal zwei. Dann wird die Phrase nach diesen vier Achteln mit einem Abschlusston vollendet.
Schritt 3: Vertikal improvisieren
Schau dir denselben Refrain an, diesmal «vertikal»: Der erste Ton jeder (Teil-)Phrase ist passend zum Akkord. Das ist eine typische Grundregel beim Komponieren und auch beim Improvisieren: Beim Akkordwechsel soll der Melodieton zum Akkord passen.
Wie weisst du das? Wenn du Schritt 1 verinnerlicht hast, dann weisst du:
- Der Akkord C-Dur besteht aus den Tönen C + E + G
- F-Dur hat die Töne F + A + C
- G-Dur hat G + H + D
So siehst du sofort: Im ersten Takt beginnt die Melodie auf einem E (Teil des Akkords C); im zweiten Takt wechselt der Akkord auf F, die Melodie fängt an auf einem A (kommt im F-Dur vor); im dritten Takt dasselbe – der Ton E kommt im Akkord C vor, der Ton D kommt im Akkord G vor, der Ton C ist im Akkord C drin:
Hast du Fragen? Schreib unten einen Kommentar. Ich helfe dir gerne weiter.
…danke für die Antwort. Ich hatte den Bogen "übersehen"…Deine Antwort ist für mich hilfreich
Hallo Artemi, genau mein Thema. Danke!!!
Ok, ich verstehe nach dem 1. wichtigen Ton suchen. Dann habe ich aber verschiedene Möglichkeiten (E, G-Akkord). Wenn ich mir die weiteren Töne ansehe, stört mich beim C- Aklord das F, und beim F-Akkord das H. Wonach richte ich mich???
Gruß Dagmar
Liebe Dagmar, ich verstehe leider deine Frage nicht. Was versuchst du genau und was sind die Schritte, die du machst?
drei Fragen:
1. wenn ich einen Ton höre, dann höre ich nicht, ob das ein D oder ein E oder ein x ist – hier kommt m.E. doch das Talent ins Spiel
2. wenn ich nichts verlernt habe, beginnt der 1. Takt nicht mit einem E sondern mit einem D
3. wieso hat der erste Takt nur 6 Achtel und der zweite Takt nur 7 Achtel (in Addition) – wo ist der Rest?
Lieber Rainer
1. Wieso musst du das hören? Du kannst es ja sehen, entweder auf Noten oder wenn du selber spielst, weisst du ja was du spielst.
2. Das D kommt von der Melodie von vorher, die Melodie im Refrain fängt mit dem E an. Du musst schauen, wo die Melodie anfängt.
3. Ich komme in beiden Takten auf 8/8. Hast du die Notenhalse richtig angeschaut und auch die Punktierungen mitgezählt?
Hallo Artemi,
Die erste Note im 1. oder 2. Takt entspricht doch nicht dem jeweiligen Akkord, woher weiß ich, welche Note den Hinweis auf den Akkord gibt. Beispiel: erste Note im 1. Takt ist ein d, also keine Note des C-Dur Akkords…
Das d kommt noch vom Takt vorher, du musst schauen, wo die Melodie anfängt.